29.09.2016

75ster Jahrestag von Babi Jar

Tätige Hilfe für Überlebende des Holocaust ist die wirksamste Form des Gedenkens

Wassili Michailowski, Überlebender des Massakers von Babi Jar

Wenn Wassili Michailowski über das Massaker von Babi Jar spricht, hört er bis heute das ununterbrochene Rattern der Maschinengewehre. Eindringlich schildert der 1937 als Zesar Kaz Geborene seine Erinnerungen: 

„Als mein Vater nach seiner Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager in Darniza wieder nach Hause kam, in die Kostelnaja-Straße 9, wurde er von der Hausmeisterin gesehen, die sofort zwei Polizisten holte. Er kam in Babi Jar ums Leben. Am nächsten Morgen sagte die Hausmeisterin meiner Kinderfrau: ‚Bring den Judenbalg nach Babi Jar‘. Die Kinderfrau, die nie auf einer Schule gewesen war, konnte sich die ganze Gefahr gar nicht vorstellen und brachte mich nach Babi Jar. Als wir aber hinter der ersten Absperrung waren und die Maschinengewehre hörten, begriff sie, dass der Tod auf uns wartete. Ich schrie und weinte. Ein Deutscher, der neben uns ging, stieß uns zur Seite, zeigte auf einen schmalen Durchgang und sagte: „Setz das Kind dorthin.“ […] Der Zug der Todgeweihten bewegte sich weiter und der Deutsche verlor uns aus den Augen. Dort blieben wir, bis es dunkel war.“ 

(Boris Zabarko, Hrsg.: „Nur wir haben überlebt“. 2004)

Elternlos – seine Mutter war bereits bald nach seiner Geburt verstorben - kam Wassili schließlich in einem Waisenhaus unter. Die Kinder wurden mit Abfällen der Wehrmacht und Schlachtabfällen des nahen Fleischkombinats vor dem Hungertod bewahrt. Wann immer nötig versteckte die Leiterin des Waisenhauses die zwölf jüdischen Kinder in einem Wäscheraum unter der Treppe. Nach der Befreiung Kiews im November 1944 nahm die Arztfamilie Michailowski Wassili an Sohnes statt an. 

Wassili schloss die Realschule mit einer Medaille ab und absolvierte ein Studium an der renommierten Kiewer Ingenieurs- und Bauhochschule. Zuletzt leitete er vor seiner Pensionierung das technische Konstruktionsbüro des Forschungsinstituts für Bauwirtschaft. Die beiden großen Kiewer Stadien gehen auf seine Mitwirkung zurück. Seit 1999 erhält Wassili Michailowski eine Rente aus dem Mittel- und Osteuropafonds der Claims Conference. Im Rahmen des Child Survivor Fund hat er eine Einmalzahlung in Höhe von 2.500 Euro bekommen.

Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mit Wassili Michailowski zu telefonieren:

„Die Zahlungen aus Deutschland, die von der Claims Conference ausgezahlt werden, stärken uns Holocaust-Überlebenden den Rücken. Das ist in diesen Zeiten der finanziellen und militärischen Krise in der Ukraine eine große Hilfe“, versicherte er mir. 

Wehrmacht und Einsatztruppen kooperierten bei der Massenerschießung

Am 29. und 30. September jährt sich zum 75sten Mal der Jahrestag des Massakers an der jüdischen Bevölkerung der ukrainischen Hauptstadt Kiew in der Schlucht von Babi Jar. Babi Jar ist zum Synonym für den Völkermord an den Juden Osteuropas geworden. Anders als Auschwitz ist Babi Jar jedoch nicht im kollektiven Geschichtsgedächtnis verankert.

„Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September bis 8 Uhr Ecke der […] einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld, Wertsachen […] Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen“, lautete der Befehl der deutschen Stadtkommandantur von Kiew. 

Mehr als 33.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden aus der Stadt getrieben und in der vor den Toren Kiews gelegenen Schlucht von Babi Jar hingemetzelt. Das Morden dauerte zwei Tage. Angehörige der Einsatzgruppe C der SS führten die Massenerschießungen unter Aufsicht der Wehrmacht durch. 

Große Teile der jüdischen Bevölkerung hatten Kiew, alarmiert von Berichten über die Gräueltaten der deutschen Besatzer, verlassen und waren vor der heranrückenden Wehrmacht nach Osten geflohen. Nur wer fliehen, sich verstecken oder eine nichtjüdische Identität annehmen konnte, hatte eine Chance zu überleben. Es sind einzelne Fälle bekannt, die Babi Jar überlebten, weil sie sich tot stellten, bei Einbruch der Dunkelheit unter den Leichenbergen hervorkrochen und sich in Sicherheit brachten.

Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in der Ukraine wird heute auf 350.000 bis 500.000 Personen geschätzt. Das entspricht etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Rund 20.000 von ihnen sind Holocaust-Überlebende. 

Dienstleistungen der Sozialfürsorge bereitstellen

Über die Toten dürfen wir die Überlebenden nicht vergessen, für die wir eine gemeinsame Verantwortung tragen. Ihnen einen Lebensabend in Würde zu ermöglichen, ist unsere innere Pflicht. Tätige Hilfe stellt dabei die wirksamste Form der Erinnerung dar. 

Ein Schwerpunkt des Engagements der Claims Conference liegt in der häuslichen Betreuung von bedürftigen Holocaust-Überlebenden. Gerade in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion besteht ein großer Bedarf an Maßnahmen der Sozialfürsorge, da hier mit dem Untergang der Sowjetunion auch die Sozialsysteme kollabiert sind. Angesichts des mit zunehmendem Alter steigenden Pflegebedarfs wird auch der Mittelbedarf in den kommenden Jahren noch steigen.

Allein im Jahr 2016 wird die Claims Conference einen Betrag von 415 Millionen US Dollar für soziale Dienstleistungen zugunsten von Holocaust-Überlebenden aufwenden. Sie arbeitet dabei mit 240 Sozialagenturen in 46 Ländern weltweit zusammen.

Mit den Geldern, die zu einem bedeutenden Teil von der Bundesregierung beigesteuert werden, werden Dienstleistungen der häuslichen und medizinischen Betreuung, Essen auf Rädern, Suppenküchen, Lebensmittelpakete, Winterhilfe, Transfers etc. finanziert.

Die tiefen Wunden, die das Massaker von Babi Jar vor nunmehr 75 Jahren gerissen hat, werden sich erst vernarben, wenn alle Überlebenden hinreichend versorgt sind. Die Erinnerung an das Massaker jedoch bleibt als Mahnmal in Stein gemeißelt, so wie die große steinerne Menora am Rande des Abgrunds von Babi Jar.

Julius Berman, President
Greg Schneider, Executive Vice President
Ruediger Mahlo, Repräsentant in Deutschland