Julius Berman, der Präsident der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference), kündigte die Veröffentlichung einer umfassenden Erhebung über Kenntnisse und Wahrnehmung des Holocaust unter Erwachsenen in Österreich an.
Mehr als die Hälfte der Befragten (56%) wusste nicht, dass während des Holocaust sechs Millionen Juden ermordet wurden. Unter den um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z waren es sogar 58 Prozent.
Vergleichbar einer Befragung, die die Claims Conference im April 2018 in den USA durchgeführt hatte, stellte die österreichische Studie Lücken bei den historischen Fakten und den Kenntnissen über den Holocaust fest. Die Erhebung ergab ferner, dass eine erschreckend hohe Anzahl von ÖsterreicherInnen (58 %) angab, dass so etwas wie der Holocaust in anderen europäischen Staaten wieder geschehen könnte.
Neonazistische Bewegungen in den Vereinigten Staaten werden von den ÖsterreicherInnen stärker wahrgenommen als im eigenen Land; 36 Prozent der Befragten gaben an, dass es einen „sehr viele“ oder „viele“ Neonazis in Österreich gebe, während 50 Prozent äußerten, dass es in den USA „sehr viele“ oder „viele“ Neonazis gebe.
„Dies ist die dritte Befragung, die die Claims Conference im vergangenen Jahr durchgeführt hat, um Holocaust-Kenntnisse und -Wahrnehmung global zu messen“, erläuterte Julius Berman. Einmal mehr müssen wir alarmierende Trends hinsichtlich mangelnder Kenntnisse über den Holocaust feststellen. Ohne entsprechende Vermittlung laufen wir Gefahr, dass die Geschichte des Holocaust verfälscht und anderweitig geleugnet wird und dass die Ermordeten vergessen werden. Effiziente Vermittlung ist das oberste Gebot, um sicher zu stellen, dass die Ereignisse der Vergangenheit sich nicht wiederholen.
Weitere wichtige Ergebnisse der Erhebung sind:
- Eine der überraschendsten Feststellungen: Ein Viertel der befragten ÖsterreicherInnen (25 %) glauben, dass eine Million Juden oder weniger während des Holocaust ermordet wurden. Die Zahl ist unter den um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z sogar noch höher; beinahe ein Drittel (30 %) von ihnen glauben, dass eine Million oder weniger Juden ermordet wurden.
- Mehr als ein Drittel aller ÖsterreicherInnen (36 %) und 42 Prozent der um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z in Österreich glauben, dass zwei Millionen oder weniger Juden während des Holocaust ermordet wurden.
- Eine prozentuale Mehrheit von 38 Prozent der Antwortenden glaubt, dass der Nationalsozialismus wieder an die Macht kommen könnte, während 35 Prozent diese Aussage völlig ablehnen und 27 Prozent neutral oder unsicher sind. 43 Prozent der um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z glauben an das Wiedererstarken des Nazismus.
- Österreichs kompliziertes Verhältnis zum Holocaust-Vermächtnis des eigenen Landes wird sichtbar anhand der Mehrheitsmeinung (68 Prozent), die sagen, dass die ÖsterreicherInnen BEIDES waren Opfer und Täter des Holocaust, während nur 13 Prozent sagen, dass sie ausschließlich Täter waren.
- Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass die ÖsterreicherInnen keinen aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten; das sagten 45 Prozent der Antwortenden, die angaben, dass die ÖsterreicherInnen keine Maßnahmen ergriffen hätten, als Österreich von Nazi-Deutschland annektiert wurde, während 32 Prozent sagten, dass die Annexion mit breiter Unterstützung durch die ÖsterreicherInnen stattgefunden hätten. 16 Prozent der Befragten waren unschlüssig und sieben Prozent glaubten, dass die ÖsterreicherInnen mehrheitlich gegen die Annexion waren.
- 28 Prozent der Befragten glauben, dass „sehr viele“ oder „viele“ Österreicher gehandelt hätten, um jüdische Menschen zu retten, während elf Prozent unsicher waren, wie viele es waren oder ob es überhaupt ÖsterreichInnen gab, die aktiv jüdische Menschen gerettet haben. Zum historischen Kontext: 109 ÖsterreicherInnen wurden dafür anerkannt, dass sie Juden während des Holocaust geholfen haben; so lautet der Eintrag in der Yad Vashem Datenbank für die Gerechten unter den Völkern.
- Auf die Frage, Todes- oder Konzentrationslager oder Ghettos zu nennen, von denen sie schon gehört haben, konnten 42 Prozent der ÖsterreicherInnen das österreichische Todeslager Mauthausen nicht nennen, ein Todeslager, dass für seine grausamen Haftbedingungen bekannt war und das nur rund 160 Kilometer von der österreichischen Hauptstadt Wien entfernt liegt.
- Selbst bei Antworten, die auf fundierte Kenntnisse über bekannte Holocaust-Protagonisten schließen ließen, wurde ein weitgehender Mangel an geografischer und historischer Sachkenntnis festgestellt. So kannten etwa 80 Prozent der Antwortenden Anne Frank, doch nur 20 Prozent konnten die Niederlande als Verfolgungsland des Holocaust anführen, wo Anne Frank in einem Hinterhaus im Versteck gelebt hatte und schließlich von der Gestapo verhaftet wurde.
- Während 51 Prozent den Österreicher Adolf Eichmann, den Verwalter und Organisator von Hitlers Endlösung, kannten, wussten nur 14 Prozent, dass Eichmann Österreicher war.
Positiv festzuhalten ist, dass 75 Prozent der Befragten es für wichtig halten, dass Holocaust-Vermittlung auch weiterhin stattfindet; 82 Prozent sagen, dass alle SchülerInnen im Schulunterricht über den Holocaust unterrichtet werden sollen, und 76 Prozent glauben, er verpflichtend in den Schulen unterrichtet werden soll. Die Ergebnisse der Studie zu Kenntnis und Wahrnehmung des Holocaust in den USA und Kanada kommen übrigens zu vergleichbaren Ergebnissen.
Der Taskforce für Befragungen unter der Leitung von Matthew Bronfman, Mitglied des Board of Directors der Claims Conference, gehören Holocaust-Überlebende, VertreterInnen von Museen, Bildungseinrichtungen und führenden NGOs aus dem Bereich der Holocaust-Vermittlung an, so u.a.: Yad Vashem, United States Holocaust Memorial Museum, Claims Conference und George Washington University.
Greg Schneider, Executive Vice President der Claims Conference erläuterte: “Es reicht nicht aus, dass eine große Mehrheit in den österreichischen, amerikanischen und kanadischen Studien glaubt, dass der Holocaust im Schulunterricht vermittelt werden sollte, wir müssen mehr daransetzen, dass es auch umgesetzt wird.“
Matthew Bronfman, der Vorsitzende der Taskforce sagte: „Es ist deutlich, dass wir vor einem Problem stehen, wenn 42 Prozent der um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z glauben, dass weniger als zwei Millionen Jüdinnen und Juden während des Holocaust ermordet wurden. Wir scheitern offenbar darin, unsere jungen Menschen zu unterrichten und die Folgen werden furchtbar sein.“
Oskar Deutsch, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in Österreich und Wien, erklärte:
„Die Wissenslücken vieler Österreicher, die die Studie jetzt offengelegt hat, definiert den Auftrag nicht nur an Lehrer und Politiker, sondern an die gesamte Gesellschaft. Eine konsequente Verfolgung antisemischer Straftaten und Versuchen von Shoah-Leugnung sind dabei ausschlaggebend.“
Weitere signifikante Feststellungen sind:
- 13 Prozent der um die Jahrtausendwende Geborenen und der Generation Z glauben, dass die Zahl der ermordeten Juden weit übertrieben sind, während 10 Prozent unsicher sind.
- 27 Prozent der Befragten glauben, dass das jüdische Volk einen weiteren Völkermord erleben könnte, während 35 Prozent völlig gegenteiliger Ansicht waren und 38 Prozent neutral oder unsicher waren.
- Nahezu zwei Drittel der Befragten (63 Prozent) sagen, dass sich aktuell weniger Menschen mit dem Holocaust beschäftigen, als das früher der Fall war.
Methodik und Stichprobe der Befragung
Die Holocaust Knowledge and Awareness Study wurde von der Claims Conference beauftragt. Die Daten wurden in deutscher Sprache erhoben und von Schoen Consulting anhand einer repräsentativen Stichprobe von 1000 österreichischen Erwachsenen mittels Interviews, die über Festnetz, mobile Telefone und Online geführt wurden, analysiert. Die Befragten wurden nach dem Zufallsprinzip ermittelt und stellen eine demographisch repräsentative Stichprobe der Erwachsenenbevölkerung in Österreich dar.
Topline Ergebnisse:
Topline Ergebnisse: (Englisch)
Topline Ergebnisse: Millenials (Englisch)
Topline Ergebnisse: Vergleich USA/Kanada/Österreich (Englisch)
Methodologie: